Der isländische Riese Isequuoc tyrannisierte regelmäßig Dörfer an der grönländischen Südküste. Die Inuit, die sich durchwegs ein friedvolles Dasein wünschten, versuchten seine Raserei zu dämpfen und ihn durch freiwillige Fischopfer zu besänftigen.
Es half nichts. Isequuoc zog weiterhin plündernd durch alle Siedlungen, die er mit seiner feinen Nase witterte, und versetzte die Bevölkerung in Angst und Schrecken. Die Mitglieder des Ältestenrates der Inuit waren sich rasch einig, dass man dem Riesen nur dann Einhalt gebieten konnte, wenn man ihm einen noch mächtigeren Koloss entgegenstellte, als er selbst es war. Sie schickten Boten aus, die die gesamte nördliche Welt durchkämmten, um einen Riesen zu finden, der Isequuoc überragte und ihn an Körperkräften übertraf.
Die langwierige Suche der Boten blieb erfolglos. Sie kehrten mit der bitteren Erkenntnis nach Grönland zurück, dass es keinen gab, der Isequuoc die Stirn bieten konnte.
Eines Tages überfiel er zum ersten Mal Grindhaven. Isequuoc legte das Dorf in Schutt und Asche. Die Bewohner hatten sich rechtzeitig in Sicherheit gebracht.
Der Dorfälteste, ein kluger und an und für sich besonnener Mann, beobachtete den Angreifer aus sicherer Entfernung bei seinem zerstörerischen Werk. Ihm fiel auf, dass der Riese plötzlich zusammenzuckte, als das Brummen eines Insekts zu hören war. Der Dorfälteste wusste, dass es von einer Hummel herrührte, die geradewegs auf Isequuoc zuflog. Als sie nur noch wenige Meter von ihm entfernt war, beendete er panisch sein destruktives Wüten und ergriff die Flucht.
Das brachte den Dorfältesten auf eine Idee. Als wenige Tage später dänische Handelsreisende im Hafen des zerstörten Dorfes vor Anker gingen, bat sie der Dorfälteste, dass sie ihm auf ihrer nächsten Fahrt etwas ganz Bestimmtes mitbrachten. Die Reisenden versprachen, dass sie der Bitte nachkommen wollten.
Sie hielten Wort. Einige Wochen später übergaben sie den Dorfbewohnern, die inzwischen mit dem Wiederaufbau ihrer Behausungen begonnen hatten, ein Dutzend rechteckiger Kästen. Der Älteste zeigte seinen Leuten den Platz, an dem sie die Kästen aufstellen sollten.
Isequuoc kam bald zu Ohren, dass das Dorf, das er erst wenige Wochen zuvor dem Erdboden gleich gemacht hatte, wieder im Entstehen war.
Er kehrte, so rasch er konnte, zurück und schickte sich an, alles noch einmal zu zerstören. Als er die rechteckigen Kästen entdeckte, begann er sie als erste zu zerschlagen.
Zu spät erkannte er, dass das wütende Gesumm, das sich daraufhin erhob, ihm galt, und dass der richtige Moment bereits verstrichen war, um noch die Flucht zu ergreifen.
Die Bienenschwärme stachen ihn zuhauf am ganzen Körper. Isequuoc wankte, stürzte und verlor das Bewusstsein.
Als der Riese wieder erwachte, lag er gefesselt auf dem Boden. Um ihn herum standen die Bewohner von Grindhaven.
„Warum habt ihr mich nicht gleich getötet?“, ächzte Isequuoc. „Dann wärt ihr von mir erlöst gewesen.“
„Wir brauchen dich noch“, erwiderte der Dorfälteste.
„Ihr braucht mich?“, höhnte der Riese mit gequältem Gelächter. „Wozu um alles in der Welt könnt ihr einen wie mich gebrauchen?“
„Du musst alles wieder aufbauen, was du zerstört hast“, sagte der Älteste. „Und wenn du damit fertig bist, kümmerst du dich für den Rest deines Lebens um unsere Bienen.“
„Und wenn ich mich weigere?“, krächzte Isequuoc.
„Dann werden sie dich wieder stechen.“
„Alles, nur das nicht“, flüsterte der Riese. „Einverstanden.“
Es dauerte mehrere Jahre, ehe Isequuoc alle Bauwerke wieder errichtet hatte, die er zuvor zerstört hatte. Am Ende trat er mit geläutertem Herzen seinen Dienst bei den Bienen an. Er war von Beginn an ein so sorgfältiger Imker, dass keine einzige Biene ihn je mehr stach.
Michael, 3. Juni 2022.