Knopfdruck

„Schönwetterflüge sind am gefährlichsten“, sagte Kapitän Mauser zu seinem Gast, den er ausnahmsweise und gegen jede Vorschrift ins Cockpit eingeladen hatte.

„Wie kommt es?“, fragte der Angesprochene und schluckte das mulmige Gefühl, das aus seinem Magen die Speiseröhre hinaufgestiegen war, tapfer und unauffällig wieder hinunter.

„Man ist weit weniger gefordert“, führte Mauser aus. „Alles läuft nach Plan. Das meiste geschieht automatisch.“

„Das klingt doch beruhigend“, warf der erleichterte Gast ein. „Mir erschließt sich nicht, wo hier zusätzliche Gefahren drohen.“

„Man hat bei sprichwörtlichem Kaiserwetter viel mehr Zeit“, erklärte der Captain, „um irgendwelche unbekannten Knöpfe auszuprobieren, die einem noch nicht vertraut sind, weil man sie sonst nie braucht.“

„Wer drückt solche Knöpfe?“, fragte der Gast nun wieder beunruhigt. „Etwa Sie als verantwortungsvoller Pilot?“

„Nein, nein, ich liebäugle nur selten damit!“, beschwichtigte Mauser. „Hauptsächlich unseriöse Co-Piloten oder leichtsinnige Bordingenieure können nicht widerstehen.“

„Sie haben aber auch schon gedrückt, oder?“, hakte der Gast nach.

„Gelegentlich“, gab der Kapitän zu.

„Was passiert, wenn man solche Knöpfe betätigt?“, fragte der Besucher, dessen Besorgnis weiter wuchs.

„Im günstigsten Fall überhaupt nichts“, erklärte Mauser.

„Und in weniger günstigen Fällen?“

„Man verliert ein Triebwerk. Oder den kompletten Treibstoff. Manchmal blinken auch in der Kabine bunte Lämpchen oder es fallen alle Sauerstoffmasken von der Decke. Man weiß es nie vorher.“

„Das heißt also“, schlussfolgerte der Gast, „dass Sie nicht wüssten, was geschähe, wenn ich nun irgendeinen Knopf drücken würde?“

„Ganz genau“, nickte Mauser. „Die Wahrscheinlichkeit, dass ich es nicht vorhersagen könnte, wäre relativ hoch. Möchten Sie es denn versuchen?“

„Sie meinen“, stammelte der Gast, „dass Sie es zulassen, dass ich in Ihrem Cockpit irgendeinen Knopf drücke?“

„Nur zu“, ermunterte ihn der Captain. „Es wird schon schiefgehen.“

„Ich finde das nicht gut“, murmelte der Besucher. „Gar nicht gut.“

„Drücken Sie!“, drängte Captain Mauser. „Wenn Sie es nicht tun, drücke ich selbst!“

Der Bordingenieur und der Co-Pilot sahen den Gast erwartungsvoll an und nickten.

„Also gut“, gab er schließlich klein bei. „Aber schieben Sie es bitte später nicht mir in die Schuhe, wenn etwas schiefgeht.“

Alle drei schüttelten die Köpfe. Der Gast ließ seine Blicke zuerst über die Decke und dann zum Boden schweifen, wo er einen unscheinbaren, schwarz-gelben Hebel entdeckte. Der Besucher fasste sich ein Herz, bückte sich und zog den Hebel kräftig zu sich.

Es ereignete sich nichts Spektakuläres. Eine Klappe ging auf und blieb offen stehen. Die vier Männer starrten gespannt auf die Öffnung, konnten aber zuerst weder etwas sehen noch etwas hören. Nach etwa einer Minute vernahmen sie dann aber ein leises Summen, das aber allmählich lauter wurde.

„Haben Sie eine Idee, was das sein könnte, meine Herren?“, rief der Gast.

„Ich weiß es!“, frohlockte der Bordingenieur. „Es sind Bienen! Ich habe nicht die geringsten Zweifel. In meiner Freizeit bin ich nämlich Imker, müssen Sie wissen.“

„Bienen?“, schrie Mauser entgeistert. „Um Himmels Willen! Ich bin allergisch gegen ihre Stiche und habe hier im Cockpit mein Notfallset natürlich nicht dabei!“

„Bei mir ist es genauso!“, jammerte der Co-Pilot. „Ein Stich und ich falle bewusstlos vom Stuhl!“

Es war zu spät. Aus der Klappe quollen Hunderte von Bienen hervor, die im Cockpit hektisch zu kreisen anfingen.

„So tun Sie doch etwas!“, schrie der Pilot den Gast an.

„Ich?“, konterte der Besucher. „Was soll ich denn tun? Ich hatte Sie gewarnt.“

„Irgendjemand muss dieses Flugzeug fliegen!“, rief Kapitän Mauser. „Der Co-Pilot und ich werden ausfallen! Sehen Sie nur: Den Bordingenieur hat es schon erwischt.“

Es stimmte. Der Bordingenieur war mehrfach gestochen ohnmächtig auf dem Boden zusammengesackt. Im Cockpit kreisten mittlerweile so viele Bienen, dass von draußen kaum noch Licht hereindrang.

„Ich kann das Flugzeug aber nicht fliegen!“, rief der Gast. „Ich besitze keinerlei Ausbildung in dieser Richtung.“

„Dann drücken Sie wenigstens einen anderen Knopf!“, schluchzte der Kapitän und hielt sich die Hände vors Gesicht. „Irgendeinen.“

„Eine ausgezeichnete Idee!“, lächelte der Gast, den inzwischen ein nie zuvor gekannter Mut gepackt hatte. „Wünschen Sie uns Glück!“

Der Gast drückte irgendeinen Knopf an der Decke. Aus einem Lautsprecher erklang die litauische Hymne.

„Schnell!“, drängte der Captain. „Probieren Sie etwas anderes!“

Der Besucher nickte und schob einen auffälligen neongelben Regler ganz nach unten. Ein Seitenfach sprang auf und gab den Blick auf ein Bügelbrett frei.

„So schaffen wir es nicht!“, rief der Gast. „Gibt es vielleicht irgendwo ein Handbuch?“

„Klar“, rief der Co-Pilot und hielt dem Besucher sofort einen schweren Ordner hin.

Der Gast setzte sich auf den Boden, um die Kreise der immer noch herumschwirrenden Bienen so wenig wie möglich zu stören. Er schlug das Inhaltsverzeichnis auf und begann zu lesen. Plötzlich hellte sich seine Miene auf.

„Ich wusste es!“, rief er, erhob sich und trat zielstrebig auf ein unscheinbares Fußpedal in einer der Ecken.

Augenblicklich klappte eine quadratische metallene Seitenverkleidung auf, aus der sich eine Düse herausschob.

„Was ist das?“, fragten Pilot und Co-Pilot gleichzeitig.

„Die Lösung unserer Probleme!“, rief der Gast enthusiastisch. „Ein Bienensauger! Das Gegenstück zu dem Bienenspender, den ich vorhin in Gang gesetzt habe.“

Er behielt recht. Binnen weniger Sekunden saugte die Düse ausnahmslos alle Bienen ein, die das Cockpit bevölkerten.

„Sie haben uns gerettet!“, rief Captain Mauser. „Das werden wir Ihnen nie vergessen. Wie können wir Ihnen bloß danken?“

„Indem Sie hoch und heilig versprechen, dass Sie das Handbuch lesen und nie wieder irgendwelche Knöpfe drücken, die Sie nicht kennen.“

In diesem Augenblick erwachte der Bordingenieur.

„Wo bin ich?“, rief er einigermaßen desorientiert. „Wo sind die Bienen?“

Der Gast erklärte es ihm.

„Bienen gibt es übrigens in jedem Verkehrsflugzeug,“, setzte er dann hinzu. „Steht so im Handbuch. Sie nutzen die Stehzeiten der Jets am Boden, um die Wiesen in der Umgebung der jeweiligen Flughäfen abzuweiden.“

Dem Bordingenieur ging plötzlich ein Licht auf.

„Das erklärt einiges!“, rief er. „Sehen Sie!“

Er drehte zu seiner Rechten einen kleinen Hahn auf, aus dem eine goldgelbe Flüssigkeit tropfte.

„Ich habe mich immer schon gewundert, wo der Honig herkommt.“

Der Pilot, der Co-Pilot und der Gast starrten ihn ungläubig an.

„Was ist los, meine Herren?“, fragte der Bordingenieur lachend. „Sie müssen ihn probieren! Er schmeckt köstlich!“

Michael, 18. Juni 2022

4 Kommentare zu „Knopfdruck

  1. Lieber Michael,
    Das sind die – verzeih bitte – die besten zwei Geschichten der letzten Zeit. Lustig uns phantasievoll! LG P

    Von meinem iPhone gesendet

    Gefällt 1 Person

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