Laut und leise

Horst hatte genug von seinen Briefmarken. Er ertrug die ewige Stille nicht mehr, die von ihnen ausging.

„Versuch’s doch mit Bienen“, riet die Stiefmutter, bei der er wohnte. „Die machen den ganzen Tag ordentlich Krach.“

Horst nickte ergeben.

„Und du könntest sie mit Zuckerplörre füttern. Du weißt schon, die seit Jahren in dem Tank im hinteren Keller dümpelt.“

Horst ging ins Internet, auf Emerson. „Bienen“, tippte er in die Suchleiste und „Steckenpferd“.

Zwei Angebote poppten auf: „Abelhas inteligentes de Fittipaldi“ aus Südamerika und „Lake & Palmer’s Simple Minded Bees Starter Set“ aus England.

Er fragte die Stiefmutter. Sie schlug die einfach gestrickten Bienen von der Insel vor. Sie fand, dass sie besser zu Horst passten.

Ein wenig eingeschnappt entschied sich ihr Stiefsohn für die intelligenten Bienen aus Brasilien, die sich gegen einen geringen Aufpreis beim Empfänger sogar selbst auspackten. Horst bestellte einen Schwarm frei Haus. Die folgenden Tage verbrachte er ungeduldig wartend im Kreis seiner weiterhin schweigenden Marken.

Irgendwann kam die Postzustellerin mit einem Affenzahn in ihrem gelben Elektrofahrzeug angebraust. Unmittelbar vor Horst, der schon am Gartenzaun wartete, schliff sie scharf zusammen und stieß die Beifahrertür auf. Sie warf ihm ein Paket vor die Füße.

„Da, Horst! Ich weiß zwar nicht, was du bestellt hast, aber irgendjemand da drinnen hat es verdammt eilig herauszukommen!“

Sie stieg aufs Gas und schoss grußlos davon. Fittipaldis Bienen zerrissen von innen die Verpackung, stoben ins Freie und formierten sich an der Hauswand. Horst hatte das Gefühl, dass die Insekten in einem bestimmten Rhythmus summten. Nach wenigen Augenblicken erkannte er, dass die Bienen das Morsealphabet benutzten. Horst war beeindruckt von ihrer Schlauheit. Der Werbetext hatte nicht zu viel versprochen. „H_u_n_g_e_r“, morsten die Bienen und zur Sicherheit noch einmal: „H_u_n_g_e_r“.

Horst begriff, dass sie ihr Bedürfnis zu seinem Problem machten.

„Folgt mir“, rief er mit einer einladenden Handbewegung. „In den Keller. Es gibt Zuckerplörre.“

Der Schwarm leistete der Aufforderung sofort Folge und flog hinter Horst her. Er stieg in den Keller hinunter und führte die Bienen zum Zuckerplörretank. Er schraubte den Deckel ab. Eine Vorhut löste sich von dem Schwarm und flog in den Behälter hinein. Wenige Augenblicke später vereinigten sie sich wieder mit dem übrigen Volk, das sich sogleich an der Kellerwand formierte und summend eine neue Botschaft morste. „S_a_u_f_e_n___d_i_e_s_e___B_r_ü_h_e___n_i_c_h_t.“

„Stellt euch nicht so an!“, rief Horst. „Das ist Zuckerplörre, die meine Stiefmutter selbst angesetzt hat.“

Zur Bekräftigung ihrer Ablehnung stachen drei Bienen Horst in die Hand.

Er lenkte sofort ein.

„Alles wird gut“, sagte er. „Ihr sollt ein Fass von meinem Beaujolais bekommen.“

Er zog den Korken aus dem Spundloch und wies den Fittipaldi-Bienen den Weg.

Gierig flogen die Bienen durch die enge Öffnung ins Fass. Diesmal hatten sie an der Qualität der Nahrung überhaupt nichts auszusetzen, im Gegenteil. Sie taten sich so ausgiebig an dem köstlichen Beaujolais gütlich, dass sie am Ende sturzbesoffen durch den Kellerraum trudelten.

„Jetzt sagt ihr nichts mehr, was?“, rief Horst. „Mein Wein hat euch gezähmt.“

Da rissen sich die Insekten plötzlich noch einmal zusammen und fingen wieder zu morsen an, in einer Lautstärke, die Horst Schweißperlen auf die Stirn trieb. „V_e_r_p_i_s_s___d_i_c_h_!___U_n_s___z_ä_h_m_t___k_e_i_n_e_r!“

Sie stachen Horst zur Bekräftigung mehrmals in die Waden. Danach waren sie vom Beaujolais so bedient, dass sie wieder laut und wirr summend durch den Keller flogen.

Horst, der nun endgültig genug hatte von Bienen, die sich nicht unter seine Fuchtel fügten, nutzte die Gunst der Stunde und machte den Schwarm dingfest, indem er ihm eine metallene Kassette überstülpte, die er sofort verschloss.

Er trug sie hinauf in die Küche, in der er seiner Stiefmutter begegnete.

„Hast wohl die falschen Bienen bestellt?“, fragte sie, als sie die Kassette bemerkte.

Horst nickte.

„Sie gehorchen mir nicht. Ich schicke sie zurück.“

Er machte ein betrübtes Gesicht, verpackte den Schwarm und schrieb die Adresse Fittipaldis in Brasilien auf das fertige Paket. Dann bemühte er sich selbst zur Postfiliale. Als er zurückkam, gesellte er sich abermals zur Stiefmutter.

„Ich hätte auf dich hören sollen“, sagte Horst. „Es wäre besser gewesen, die dummen Bienen von Lake & Palmer zu ordern.“

„Gräm dich nicht, ich habe eine Überraschung für dich!“, rief die Stiefmutter strahlend und hielt ihm ein weiteres Paket hin. „Ich habe sie schon für dich bestellt.“

Horst öffnete die Verpackung und nahm seinen neuen Schwarm in Augenschein. Abgesehen von einem gewaltigen Gesumm, das von ihnen ausging, machten Lake & Palmers einfach gestrickte Bienen keinerlei Anstalten, auch nur das Allergeringste aus eigenem Antrieb zu unternehmen.

„Habt ihr Hunger nach dem langen Postweg?“, fragte Horst.

Nichts geschah. Der Schwarm summte lediglich in unverminderter Lautstärke weiter. „Folgt mir in den Keller zur Zuckerplörre!“, rief Horst.

Die Bienen rührten keinen Flügel. Sie summten weiter unbeirrt. Horst schubste die Bienen an und versetzte sie dadurch in eine Bewegung in konstanter Geschwindigkeit, die sie bis zum Ziel im hinteren Keller beibehielten. Dort wären sie ungebremst gegen den Zuckerplörretank geklatscht, wenn Horst sie nicht in letzter Sekunde wieder abgebremst hätte.

Wieder zog er den Korken aus dem Spundloch und ermunterte den Schwarm, dass er sich an dem zähflüssigen Zuckerwasser labte.

„Schlagt euch nach Herzenslust die Bäuche voll!“, rief er. „Ihr dürft den Tank getrost leertrinken!“

Außer dass die simplen Bienen weiterhin ohrenbetäubend summten, geschah jedoch nichts.

„Ihr müsst durstig sein“, seufzte Horst. „Trinkt! Ich bin für euer Wohlergehen verantwortlich!“

Weil die Bienen jede Nahrungsaufnahme weiterhin beharrlich verweigerten, steckte Horst schließlich seine hohle Hand in den Tank, schöpfte ein wenig Plörre und übergoss damit ein paar Bienen, die daraufhin sofort tot zu Boden stürzten. Der übrige Schwarm verharrte weiterhin in seinem nervtötenden Gesumm.

„Stiefmutter!“, schrie Horst entsetzt. „Deine Plörre ist verdorben und schlimmer als das stärkste Gift.“

Er fühlte sich mit einem Mal so erschöpft, dass er sich auf der Stelle hinlegen musste. Den Schwarm von Lake & Palmer versetzte er wie beim ersten Mal in eine gleichmäßige Bewegung.

Gemeinsam erreichten sie Horsts Schlafzimmer, wo er die Bienen in einer Ecke parkte und seinen müden Körper auf die Matratze sinken ließ.

„Tut mir einen Gefallen“, flehte er den Schwarm an, „und haltet wenigstens die Klappe, während ich schlafe.“

Die einfältigen Insekten dachten nicht daran. Sie schraubten die Lautstärke ihres Gesumms noch einmal um einen Gang hinauf. Verzweifelt hielt Horst sich die Ohren zu.

„Ich will schlafen, ihr strunzdummen Hautflügler, kapiert ihr das nicht?“

Lake & Palmers Bienenvolk ignorierte ihn. Horst war so angegriffen, dass ihm seine Nerven ihre Dienste versagten. Er fing lauthals zu schluchzen an und heulte am Ende wie der sprichwörtliche Schlosshund. Er übertönte dabei sogar die Bienen.

Schließlich nahm sich seine Stiefmutter seiner an. Sie schlich hinauf in sein Zimmer, verstaute behutsam den ungerührt weiter summenden Schwarm in der Originalverpackung, die sie vorsichtshalber aufbewahrt hatte, und schickte auch die Simple Minded Bees zurück an Emerson.

Als sie von ihrem Gang zur Postfiliale nach einer ausgiebigen Unterredung mit einer Nachbarin, die sie zufällig getroffen hatte, nach Hause zurückkehrte und noch einmal nach Horst sah, fand sie ihn zu ihrer Erleichterung schon wieder heiter und gelöst an seinem Schreibtisch sitzend, wo er andächtig der Stille seiner Briefmarken lauschte.

Michael, 15. Juli 2022

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s