Klack klack klack

Nachdem ich einmal ein angeblich schwerwiegendes Verkehrsdelikt begangen hatte, wurde ich dem Amtsarzt vorgeführt. Es war der berüchtigte Dr. Reißnagel.

„Über 300 Kilometer auf der Autobahn von Salzburg nach Wien in Schlangenlinien!“, schrie er mich an, noch ehe ich mich richtig hingesetzt hatte. „Sauerei! Da machen wir doch als erstes einen Sehtest.“ 

„Wenn Sie meinen“, seufzte ich. „Sie sind hier der Amtsarzt.“ 

„Ja, fürwahr, der bin ich!“, schallte Reißnagel. „Hier ist die Tafel mit den Buchstaben und schon geht’s los! Ist idiotensicher! Ich zeige mit meinem Stab auf einen Buchstaben, klack, Sie sagen, was Sie sehen, ich zeige auf den nächsten Buchstaben, klack, Sie antworten wieder, und so weiter, klack, klack, klack!“ 

„Oh je!“, sagte ich. „Buchstaben sind ganz schlecht. Die sehe ich nie.“ 

„Was soll das heißen?“, brüllte der Doktor. „Wohl Analphabet, was? Schämen Sie sich, in Ihrem Alter! Na schön. Dann nehmen wir stattdessen eine von den Bildtafeln für die Kinder. Damit es nicht zu leicht wird, nicht die mit den Tieren vom Bauernhof, sondern die Insektentafel. Und diesmal keine Widerrede! Ich habe meine Zeit schließlich nicht gestohlen!“ 

„Wenn Sie meinen“, seufzte ich ein weiteres Mal. „Sie sind hier der Amtsarzt.“

„Ja, ja, das wissen wir jetzt schon!“, schrie Reißnagel. „Fangen wir endlich an! Hier ist auch schon das erste Insekt. Klack!“ 

„Eine Biene?“, sagte ich.

„Falsch!“, brüllte der Doktor. „Eine Kreuzspinne! Nächstes! Klack!“

„Eine Drohne?“ 

„Wieder falsch! Eine Pferdebremse war’s. Weiter! Klack!“ 

„Jetzt ist es aber eine Drohne!“, rief ich. 

„Unsinn!“, schrie Reißnagel. „Ein Glühwürmchen! Nächstes! Klack!“ 

„Diesmal ist es eine Biene, ganz sicher!“ 

„Ein Pfauenauge! Sie erkennen ja überhaupt nichts! Sind Sie denn völlig blind?“

„Endlich haben Sie es begriffen, Doktor“, lächelte ich. „Ja, ich bin blind.“ 

„Und da sind Sie mehr als 300 Kilometer selbst am Steuer von Salzburg nach Wien gefahren?“, brüllte der Amtsarzt. 

„Reife Leistung, was?“, sagte ich fröhlich. „Und noch dazu ohne Führerschein.“

Reißnagel schlug sich die Hände vors Gesicht, stürmte gequält stöhnend hinaus auf den Gang und kam nicht wieder. 

Ich wartete noch eine Weile und machte mich dann auf den Heimweg. Unten beim Pförtner fragte ich sicherheitshalber noch einmal nach dem Verbleib des Amtsarztes. 

„Ach, der“, schnaubte der Pförtner verächtlich. „Hat sich gerade von Hofrat Sulzhorn in den dauerhaften Ruhestand versetzen lassen.“

Allmählich fing der Tag an, richtig gut zu werden.

Michael, 16. Dezember 2022.

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