Wackerbarth platzierte sich mittig im Foyer der Oper und machte in seinem Frack sehr bedächtig, fast im Zeitlupentempo zehn Kniebeugen. Die erhoffte Reaktion der anderen Besucher blieb aus. Sie blätterten weiter in ihren Programmheften (es sollte Falstaff gegeben werden) oder nippten an Champagnergläsern oder kauten Lachsbrötchen oder Wurstsemmeln. Wackerbarth versuchte es noch einmal, in dem er zehn weitere Kniebeugen machte, diesmal etwas zügiger. Kurz bevor er seine Kniegelenke anwinkelte, vollführte er dazu Geräusche, die an das Quietschen von Scharnieren erinnerten, und die Wackerbarth immer erst dann wieder unterbrach, wenn seine Beine wieder eine gestreckte Position einnahmen. Diesmal sahen einige ältere Damen zu ihm her und zeigten Interesse.
„Hören Sie, wie eingerostet ich bin?“, rief Wackerbarth in Richtung der Damen. „Es ist wirklich dringend nötig, dass ich etwas unternehme.“
Er vollführte weitere zehn Kniebeugen, abermals untermalt mit den bereits bekannten Quietschgeräuschen.
„Sie tun wirklich gut daran, sich körperlich ein wenig zu ertüchtigen. Ihre Geräusche klingen einfach schauderhaft.“
Wackerbarth ließ weitere Kniebeugen folgen.
„Das täte uns auch nicht schlecht“, sagte eine andere von den Damen und folgte Wackerbarths Vorbild und fing ebenfalls an, Kniebeugen zu machen. Auch ihre Begleiterinnen schlossen folgten ihrem Beispiel.
Wackerbarth ließ jetzt nicht mehr auf jeweils zehn Beugungen und Streckungen eine kurze Unterbrechung folgen, sondern setzte seine Übung in einer unaufgeregten Konstanz fort, wobei er allerdings die Quietschgeräusche immer weiter zurückfuhr.
Die Damen hielten wacker mit. Kurz darauf schlossen sich ihnen die ersten Herren an. Rasch kamen weitere hinzu. Am Ende hatten alle ihre Champagnergläser beiseite gestellt und es gab keinen und keine mehr in Foyer, der oder die nicht eifrig mitturnte. Den ersten Gong, der an den bevorstehenden Beginn des Falstaff erinnerte, ignorierten alle, ebenso den zweiten und schließlich auch noch den letzten.
Die Platzanweiser mischten sich unter die unbeirrbaren Turner und forderten die Operngäste auf, dass sie nun endlich ihre Plätze einnahmen.
Als niemand reagierte, schlossen sich auch die Platzanweiser seufzend den Turnern an. Einige Minuten später tauchten auch erste neugierige Orchestermusiker auf. Auch sie hatten der magischen Wirkung fortwährender Kniebeugen nichts entgegenzusetzen und machten mit.
Als das Orchester vollzählig mitturnte und auch alle Sängerinnen und Sänger keuchend in der Menge im Foyer ihre Knie beugten und streckten, ergriff Wackerbarth das Wort und gestand, dass er den Falstaff ohnehin nicht besonders mochte, und nach und nach outeten sich immer mehr Gegner der Oper, auch unter den Künstlern.
Als etwa zwei Stunden später alle nicht mehr konnten, schüttelten sie ihre Beine aus und machten sich dann zufrieden auf den Heimweg. Von den Kartenbesitzern verlangte niemand sein Eintrittsgeld zurück.
Michael, 17. Februar 2023.
So kann es gehen, wenn einer anfängt…
LikeLike