Die Jahre zählte Gisele, die in den 1940er Jahren in den berühmtesten Varietés von Paris atemberaubend Cancan getanzt hatte, schon lang nicht mehr. Sie war in ihrem Leben vollständig zum Stillstand gekommen als Folge eines Malheurs, an dessen Hergang sie sich nicht erinnerte.
Sie dürfe sich wünschen, was sie wolle, sagte der Vorsteher des Altenheims eines Morgens beim Frühstück zu Gisele.
Fast berührte er mit seinem Mund ihr Ohr. Einer, die ein komplettes Jahrhundert an Lebenszeit vollende, stünden alle Möglichkeiten offen an ihrem Ehrentag.
Sie wolle tanzen, flüsterte Gisele, und davor Champagner.
Der Vorsteher nickte.
Am Nachmittag wurde Gisele in den Gemeinschaftsraum geschoben, wo ein Ensemble Aufstellung genommen hatte, mit frisch polierten Instrumenten. Der Vorsteher gab Giseles anwesenden Mitbewohnern mit der Hand ein Zeichen, woraufhin sie ihre Konversation unterbrachen und schwiegen.
Der stellvertretende Bürgermeister reichte Gisele eine Flöte mit Champagner und einen Blumenstrauß und küsste sie ungefragt auf beide Wangen, was die Jubilarin als ekelhaft empfand. Sie sah aber darüber hinweg und ließ den Strauß zu Boden sinken.
Als die Musik einsetzte, hob Gisele ihr Glas und kippte dessen prickelnden Inhalt ohne abzusetzen in ihre Kehle.
Im begeisterten Applaus der Anwesenden traten vier kräftige Männer nach vorne, Möbelpacker, die der stellvertretende Bürgermeister engagiert hatte. Sie hoben Giseles Rollstuhl behutsam an und ließen ihn im Takt der Musik kreisen, zuerst bedächtig, dann immer schneller werdend und noch schneller, bis sie jenes Tempo erreicht hatten, das einem Cancan gebührte. Minutenlang schwebte Gisele leicht wie eine Feder zwischen Himmel und Erde.
Als die Möbelpacker sie schließlich wieder absetzten, lag ein entspanntes Lächeln auf ihrem Gesicht. Ihre Augen waren geschlossen. Sie rührte sich nicht.
„Sie ist tot!“, schrie der stellvertretende Bürgermeister. „Mein Gott, sie ist tot!“
„Sie schläft“, sagte der Vorsteher des Altenheims. „Sie schläft doch nur.“
Michael, 24. März 2023