Es war nun die vierte Woche, in der Johann zu seinem Leidwesen feststellen musste, dass wieder eine Champagnerflasche fehlte. Diesmal war es eine Dom Ruinart Blanc de Blancs aus dem Jahre 2009, kein Beinbruch, aber doch ärgerlich, da dieser Champagner einer der wenigen ist, die relativ lange gelagert werden könnten. Johann inspizierte den Keller und das restliche Haus, jedoch waren keine Einbruchspuren zu entdecken. Es blieb ihm nicht anderes übrig, als selbst die Nächte im Keller unweit des Champagner-Regals zu verbringen. Der besondere Duft, den er der Champagnerlagerung zuschrieb, machten ihm den Aufenthalt angenehmer als vorerst gedacht. Bereits in der zweiten Nacht kurz nach Mitternacht hörte er jemanden die Treppe herunterkommen. Sie waren gar zu zweit, kicherten etwas und leuchteten mit ihren Taschenlampen auf das Regal. Sie griffen nach einem Krug Grande Cuvée 169ème Édition und machten sich wieder auf den Weg nach oben. Johann blieb kurz im Keller und ging dann ebenfalls die Treppen hoch. Die Haustür war versperrt wie immer und er hatte nun einen konkreten Verdacht. Bei der nächsten Familienfeier eröffnete er, dass es diesmal kein Bier gäben würde. Dafür öffnete er eine Champagnerflasche, was Julias neuer Freund sehr goutierte. Johann schenkte den Mitgliedern der Familie ein und als die Gläser gut zur Hälfte gefüllt waren, fragte er, wer Champagner-Orange bevorzugen würde. Er schüttelte die Tetra-Packung fest, drehte den Verschluss herunter, legte ihn zur Seite und Julias Mama war die Erste, die ihr Glas anbot, um es mit Orangensaft auffüllen zu lassen. Johann setzte an, blickte nur ganz kurz in die Runde und wusste, was nun geschehen würde. Julia schrie: „Opa, bist Du jetzt völlig von Sinnen! Das ist ein Dom Pérignon 6l 2002 Methusalem und kostet um die 18.000 Euro! Nie, wirklich nie kann dieser mit Orangensaft gemischt werden, nimm doch dafür den im Keller gelagerten Moet & Chandon und selbst der ist noch zu schade.“ Er lächelte Julia an und nickte. „Du hast Recht. Weißt Du was, ich habe zwei dieser Flaschen noch im Keller und schenke Dir eine davon, bevor sie auch noch gestohlen werden“. Julia wurde leicht rot und meinte, dass Champagnerdiebe so etwas wie Ehre hätten und sich nie an so teuren Flaschen vergreifen würden. Nächsten Morgen fand er im Keller 900 Euro und war sehr stolz auf seine Enkelin, die nicht nur vom Champagner eine Ahnung hatte, sondern auch vom Leben.
Harald, 24. März 2023