Makel

Alle zogen Johanna in der Schule damit auf, dass sie eine kleine Narbe im Gesicht hatte. Diese entstand durch einen Unfall, da war sie erst drei Jahre alt. Oft wurde sie beleidigt, gar erniedrigt. Mit ihren Eltern konnte sie darüber nicht sprechen, die Sprüche, dass würde sie besonders machen, hingen ihr zum Hals heraus. Ihr Großvater hatte sie noch nie auf die Narbe angesprochen und nahm sie auch nicht einmal war. Am Wochenende fuhr sie mit dem Mofa zu ihm und fragte ihn direkt, ob er denn die hässliche Narbe in ihrem Gesicht nicht sehen würde. Der Großvater lächelte und meinte, dass in ihrem Gesicht gar nichts hässlich sein könnte, alles eine Frage der Betrachtung sowie der Zeit wäre und letztere hätte er sowieso naturgemäß wenig. Er holte ungefragt einen Champagner aus dem Kühlschrank und schenkte zwei Gläser ein. „Und jetzt lass uns auf das Leben anstoßen“, erklang seine freudige Stimme. Johanna nippte daran und genoss sichtlich die Perlen. Der Großvater schmunzelte. „Weißt Du, die Perlen im Champagner sind ein Unfall. Es sollten nur stille Weine bis 1650 erzeugt werden. Wenn sie Perlen hatten, war das ein Makel. Lediglich die Engländer erfreuten sich am prickelnden Ausschusswein und kauften ihn in großen Mengen. Später folgten der Sonnenkönig Ludwig XIV., der Preußenkönig Wilhelm IV und selbst Voltaire und Goethe fanden Gefallen an den Perlen, die bis heute ihren Siegeszug unaufhaltsam fortsetzen“, zeigte er sich in der Geschichte des Champagners wieder mal sattelfest. „Danke, Opa“, antwortete Johanna nachdenklich. Bereits am nächsten Morgen fiel ihren Mitschülern ihre neue Körperhaltung auf. Zwei Wochen später war sie plötzlich interessant, anders. Ihre Klassenkameradinnen wollten alle mit ihr befreundet sein. Im Schultheaterstück bekam sie die Hauptrolle und diese sollte bis heute nicht mehr abgeben. Als eine der angesagtesten Schauspielerinnen der Gegenwart bekam sie vor kurzem nur mehr einen Lachkrampf, als eine junge Maskenbildnerin ihre Narbe überschminken wollte und erzählte ihr von Perlen im Champagner.

Harald, 31. März 2023.

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