Ein ungelüftetes Geheimnis

Nachdem Gilles eine Abhandlung über die sogenannte Bordeauxbrühe geschrieben hatte, bei der es sich nicht um einen billigen Rotweinverschnitt aus der namensgebenden Region, sondern um ein Fungizid zur Bekämpfung von Rebenschädlingen handelte, stattete er der Champagne einen Besuch ab, um vor Ort endlich das Rätsel um den außergewöhnlichen Geschmack des berühmten Getränks zu lösen, das dort aus streng kontrollierten Trauben gewonnen und gekeltert wurde.

Er stieg auf den Mont Sinai, der mit seinen 286 Metern als höchste Erhebung der Montagne de Reims eher ein Hügel war als ein Berg und ließ seinen Blick über die Weinberge schweifen. Ein Geruch lag in der Luft, der an die perlende Leichtigkeit des Schaumweins erinnerte und der sich plötzlich intensivierte.

Gilles entdeckte auf der Wiese vor sich einen Maulwurfshaufen, aus dessen Innerem augenscheinlich fleißig Material herausgeschoben wurde. Er wartete darauf, dass irgendwann das pelzige, sehschwache Tier sein Näschen aus dem Haufen streckte und war erstaunt, als tatsächlich etwas auftauchte, bei dem es sich aber keinesfalls um den erwarteten Maulwurf handelte, sondern um ein unglaublich hässliches Männlein, das sofort das Wort an Gilles richtete.

„Was glotzt du denn so blöd?“, fragte es feindselig. „Hast wohl noch nie einen Gnom gesehen?“

„Jedenfalls noch keinen so hässlichen wie dich“, erwiderte Gilles, der das Direkte nicht scheute.

Das Männlein wurde plötzlich heiter und schien sich zu freuen.

„Fein beobachtet! Ja, wir Gnome vom Mons Sinai sind die allerhässlichsten der ganzen Champagne. Lauter direkte Nachfahren von Bonaparte übrigens, der einmal hier durchgezogen ist und in seinem Feldlager irrtümlich eine krummbucklige Gänsemagd geschwängert hat, die unser aller Urmutter ist. Darum rankt sich eine lange Geschichte, die so manche dicke Schwarte füllen würde. Ich werde sie dir jetzt nicht zum Besten geben. Aber sag du, was führt einen wie dich hierher auf meine Wiese?“

„Euer berühmter Schaumwein“, erwiderte Gilles. „Ich will endlich herausfinden, warum er so unvergleichlich schmeckt.“

„Das könnte ich dir schon verraten“, sagte der Gnom. „Ich werde es aber nicht tun. Es würde dir nämlich nicht gefallen, glaub mir.“

„Sind es die Trauben?“, hakte Gilles nach, „Ist es der Boden, das Klima, das Wasser, die Luft?“

„Ja und nein“, seufzte der Gnom. „Es verhält sich aber alles ganz anders, als du wahrscheinlich denkst.“

„Du musst einfach das Geheimnis für mich lüften“, rief Gilles. „Ich platze schier vor Neugier.“

„Also gut“, lenkte das Männlein ein. „Ich werde mich aber nicht mit langen Erklärungen aufhalten, sondern es dir lieber zeigen, wie der Champagner hergestellt wird. Dazu musst du mir allerdings folgen.“

„Nur zu gern!“, rief Gilles begeistert. „Wohin?“

„Unter die Erde“, sagte der Gnom und scharrte eine Stelle auf der Wiese frei, unter der sich eine hölzerne Abdeckung befand, die das Männlein aufklappte.

„Komm!“, rief es. „Durch meine Maulwurfsgänge passt du nie und nimmer, aber hier wirst du dich wohl hindurch zwängen können.“

Gilles stieg hinter dem Gnom hinunter in den engen Naturschacht. Es war stockdunkel, was das Männlein nicht im Mindesten zu stören schien. Gilles ekelte sich vor Regenwürmern und Insektenlarven, die er während des Abstiegs an den Armen und auch im Gesicht spürte; seine Neugier war allerdings stark genug, dass er seinen Abscheu überwand und keine Sekunde an eine vorzeitige Rückkehr an die Erdoberfläche dachte. Schließlich ließ der Gnom irgendwann den letzten eisernen Haltegriff los und sprang in die Tiefe.

„Gleich sind wir da!“, rief er Gilles von unten zu. „Nun spring du auch!“

Der Angesprochene tat wie geheißen und ging bei der Landung in die Knie, um den Sprung abzufedern. In einiger Entfernung bemerkte Gilles am Ende eines Ganges ein Licht.

„Dort müssen wir hin?“

Der Gnom nickte und schlurfte voran. Alsbald erreichten sie einen hell erleuchteten Raum, in den Gilles ungläubig hineinblickte.

„Das sind ja lauter Gnome, die genau so hässlich sind wie du“, sagte er zu dem Männlein, „und sie rudern auf dem Trockenen, in hölzernen Rudermaschinen, als ruderten sie um ihr Leben.“

„Gut beobachtet“, erwiderte der Gnom. „Und was tun meine Brüder noch?“

„Keine Ahnung!“, rief Gilles. „Es ist so heiß in diesem Raum, dass es einem schier den Verstand vernebelt.“

„Du bist auf der richtigen Spur!“, rief der Gnom. „Hitze ist das Stichwort. Was tun meine Brüder also noch? Richtig! Sie schwitzen! Und was geschieht mit all dem Schweiß, den sie dabei absondern? Wieder richtig! Er wird aufgefangen und gesammelt und über ein System von Gerinnen und Röhren in geeignete Behälter noch eine Etage tiefer befördert und dort in Flaschen abgefüllt, verkorkt, etikettiert und ins Lager zur Gärung verbracht.“

„Du willst mir also weismachen, Champagner sei in Wirklichkeit der Schweiß von stinkenden Gnomen, die den ganzen Tag auf dem Trockenen rudern? Wenn ich mich also dazu setzte und mitruderte, flösse auch aus meinen Poren reiner Champagner?“

„Ganz so einfach ist es nicht“, sagte der Gnom. „Komm, ich zeig dir die Traubenkammer.“

Sie gingen einen Raum weiter. Gilles entdeckte dort weitere Zwerge, die mit großem Heißhunger Weintrauben in sich hineinstopften.

„Bevor sie rudern“, erläuterte der Gnom, „werden sie gemästet, damit sie tüchtig schwitzen.“

„Wenn ich also Trauben äße und hernach ruderte“, fragte Gilles ungläubig nach, „dann würde ich Champagner schwitzen?“

„Immer noch nicht ganz“, sagte der Gnom, „du müsstest dazwischen noch in die Käsestube.“

In einem dritten Raum verstand Gilles, was das Männlein gemeint hatte. Dort saßen Gnome mit vom Traubenkonsum aufgeblähten Bäuchen und schoben sich in rauen Mengen kleine Käsewürfel in den Mund.

„Das ist Ėpoisses“, sagte das Männlein, „unser deftigster Käse. Frag mich nicht warum, aber er verleiht dem Schweiß unserer Ruderer die charakteristische Champagnernote.“

Gilles schlug sich verzweifelt mit der flachen Hand auf die Stirn.

„Weißt du eigentlich“, sagte er zu dem Gnom, „dass ihr mich nie wieder gehen lassen dürft? Wenn ich das bekannt mache, was ihr hier treibt, um den vermeintlich edlen Champagner herzustellen, seid ihr ruiniert.“

Der Gnom klopfte ihm lachend auf die Schulter.

„Da mach dir keine Sorgen. Eine solche Geschichte würde oben als bloße Phantasterei abgetan werden! Du kannst also getrost in deine Welt zurückkehren.“

Gilles nickte erleichtert.

„Darf ich dich davor übrigens auf ein Gläschen einladen“, fragte der Gnom, „als Kostprobe? Komm, wir setzen uns hier an die Bar!“

„Mir ist der Durst auf Champagner vergangen“, sagte Gilles, „und das wahrscheinlich für mein ganzes Leben.“

„Schade. Dann vielleicht etwas anderes?“

Gilles zögerte ein paar Augenblicke.

„Habt ihr abgelaufene Buttermilch?“, fragte er dann beiläufig. „Mit einem Schuss Hustensaft und einem Brocken rohem Aal?“

„Klar“, erwiderte der Gnom und gab dem Barkeeper einen Wink. „Soll sein. Ich nehme gern genau das gleiche.“

Michael, 7. April 2023

Ein Kommentar zu „Ein ungelüftetes Geheimnis

  1. Abgelaufene Buttermilch mit einem Schuss Hustensaft und einem Brocken rohem Aal! Genau mein Geschmack! 😂😂😂
    Ich ahnte schon immer, dass der Hype um Champagner verdächtig ist. Aber dass es so schlimm ist, hätte ich nicht vermutet.

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