Der Winzer Louis Larousse, der keinen männlichen Nachkommen hatte, überlegte, wie er es seinen drei Töchtern schmackhaft machen konnte, dass sie sein Weingut übernahmen, wenn er einmal nicht mehr war.
Es handelte sich nicht um irgendein Gut, sondern um einen florierenden, höchst profitablen Betrieb im Herzen der Champagne. Die Herstellung des berühmten Schaumweins, der unter dem Namen Grand Larousse weltweit exportiert und geschätzt wurde, durfte nicht in fremde Hände fallen, sondern musste nach Louis‘ Willen unter allen Umständen in der Familie bleiben.
Das einzige jedoch, was die drei Larousse-Töchter interessierte, war laute Rockmusik. Louis beschloss daher, sich diesen Umstand zunutze zu machen und als Überraschung eine berühmte Band auf das Gut einzuladen, die seine Töchter unterhalten mochte. Wenn dann die Stimmung richtig ausgelassen war, dachte er, würde er den drei jungen Frauen einen Vertrag vorlegen, der sie zur Übernahme des Weinguts verpflichtete.
Da der Winzer jedoch von Natur aus sparsam war, erschien es ihm als angebracht, eine Formation zu wählen, die nicht mehr allzu viele Mitglieder hatte. Die Rolling Stones erschienen ihm für seine Zwecke geradezu ideal. Die drei alten Herren, dachte Louis, würden wohl leicht zu engagieren sein und aufgrund ihres hohen Alters keine unerfüllbaren Forderungen stellen.
Er rief bei einer einschlägigen Agentur an, die erstaunlich rasch Kontakt mit dem Management der Rolling Stones aufnahm, und verpflichtete die Gruppe nach kurzen Verhandlungen um einen lächerlich niedrigen Betrag.
Zu dem festgelegten Termin traf ein LKW auf dem Weingut in der Champagne ein. Louis Larousse dachte sich zuerst nichts dabei, stutzte allerdings, als er feststellte, dass es sich um einen Tiertransporter handelte. Als ein Mann aus dem Führerhaus stieg, der sich als der Manager der Rolling Stones vorstellte, war Larousse wieder beruhigt und hieß seinen Gast willkommen.
Die drei Herren, erklärte der Manager, befänden sich hinten auf der Ladefläche, seien ein wenig müde von der Reise und wollten sich noch eine Weile erholen, ehe sie ausstiegen und wie ausgemacht an der frischen Luft ihr musikalisches Programm abspulten.
Das passe ihm gut, erwiderte Larousse. Er müsse ohnehin seine Töchter benachrichtigen und herholen. Das nehme noch einige Zeit in Anspruch. Es bestehe also kein Anlass zu unnötiger Eile. Er, der Manager, könne den Truck gern im Schutz einer kleinen Baumgruppe parken, die ein wenig Schatten spende.
Der Manager bekundete durch ein Nicken sein Einverständnis.
Der Winzer machte sich auf den Weg ins Haus, um seine Töchter mit der frohen Botschaft zu überraschen, dass die Rolling Stones auf dem Gelände eingetroffen seien, um ein kleines Privatkonzert für drei zukünftige Weinbäuerinnen zu geben.
Die Töchter, die den Wink mit dem Zaunpfahl auf Anhieb verstanden, machten sich so schnell wie möglich auf den Weg ins Freie. Bedienstete und Roadies hatten neben der Baumgruppe inzwischen eine kleine Bühne errichtet.
Als der Manager Larousse und seine Töchter herannahen sah, ließ er an dem Truck die Ladebordwand herunter. Wie erwartet entstiegen dem Fahrzeug die drei Rolling Stones Jagger, Richards und Wood, die allerdings ein wenig desorientiert und abgeschlafft wirkten, was Louis Larousse dem langen Aufenthalt in dem dunklen Tiertransporter zuschrieb.
Aber anstatt sich aber auf die vorbereitete Bühne zu begeben, erklomm das Trio schweigend und gemächlich, jedoch mit erstaunlicher Geschicklichkeit einen der altehrwürdigen Bäume, unter denen der Transporter geparkt war.
Das sei sehr schlecht, seufzte der Manager. Wenn die drei sich gleich auf einen Baum zurückzögen, hätten sie womöglich überhaupt keine Lust, wenigstens ein paar Nummern zu spielen. Eine Band, die nicht auftrete, erhalte aber klarerweise keine Gage.
Vielleicht, schlug Larousse vor, könne man die Herren mit ein paar Gläsern Champagner motivieren.
Einen Versuch sei es allemal wert, erwiderte der Manager und platzierte zwei Gitarren an der großen Gabelung des Baumes, an der sich die beiden Hauptäste nach oben verjüngten.
Larousses Töchter stellten auf einem fast waagrecht gewachsenen Ast ein paar mit dem edlen Getränk gefüllte Flöten ab.
Als aus dem Baumwipfel ein zustimmendes Krächzen zu hören war, gab der Manager den Begleitmusikern auf der Bühne ein Zeichen, die daraufhin „Jumpin Jack Flash“ zu intonieren begannen. Dass Gitarren und Gläser ihren Weg hinauf ins Geäst fanden, wertete der Manager als ein gutes Zeichen.
Als schließlich oben Jaggers mehr als sonst meckernder Gesang einsetzte und auch Richards und Wood ihren Gitarren schräge Töne zu entlocken begannen, gerieten Larousses Töchter so aus dem Häuschen, dass sie gar nicht bemerkten, dass die Darbietung, die zwar insgesamt entfernt an „Jumpin Jack Flash“ erinnerte, im Grunde genommen gotterbärmlich war.
Nach dem Ende des Songs streckten die drei Musiker ihre Champagnerflöten von oben fordernd aus dem Blattwerk heraus und spielten erst weiter, nachdem die Töchter die Gläser wieder vollgeschenkt hatten.
„Honky Tonk Women“, das als nächstes folgte, geriet noch dilettantischer. Immer öfter schoben Jagger, Richards und Wood ihre Köpfe zwischen den Zweigen hervor und nahmen einen Schluck Champagner. Nach dem Stück mussten die Flöten erneut gefüllt werden.
Nach „Angie“ und „Start me up“ versuchte das Trio oben im Baum schließlich „Ruby Tuesday“ anzustimmen, was so gründlich misslang, dass auch Larousses Töchter merkten, dass mit diesen Rolling Stones etwas nicht stimmte.
Ohne Vorwarnung stürzten die drei Musiker plötzlich sternhagelvoll vom Baum und landeten hart unten auf dem Erdreich. Beim Aufprall verloren sie Teile ihres Bühnenoutfits.
Als die Töchter unter den Baum eilten, um den Verunglückten Erste Hilfe zu leisten, bemerkten sie, dass die vermeintlichen Rolling Stones gar keine Menschen waren, sondern bloß verkleidete Tiere. Jagger wurde von einem ausgewachsenen Geißbock verkörpert, hinter Richards verbarg sich in Wirklichkeit ein Pavian und Wood wurde von einem riesigen Kuttengeier dargestellt.
Das habe er schlau eingefädelt, sagten die Töchter zu ihrem Vater. Sie ließen sich aber nicht von drittklassigen Laientierdarstellern für dumm verkaufen. Und auch das Weingut würden sie auf keinen Fall übernehmen von einem, der sie übelst hintergehen hatte wollen. Da zögen sie lieber hinaus in die weite Welt, um richtige Rockmusik zu erleben.
Louis Larousse packte den Manager am Schlafittchen und schimpfte ihn einen elenden Betrüger.
Der Manager gab kleinlaut alles zu. Er stecke in großen finanziellen Schwierigkeiten. Dadurch sei er erst auf die Idee verfallen, die drei Tiere als die Rolling Stones auszugeben.
Louis Larousse, dessen Töchter sich mittlerweile entfernt hatten, um sich reisefertig zu machen, war durch die bloße Entschuldigung noch längst nicht zufrieden.
Er, der Manager, müsse nun zur Wiedergutmachung des Schadens die Leitung des Weinguts übernehmen und zwar lebenslang und ohne Bezahlung.
Zu Larousses Erstaunen sagte der Manager sofort zu.
Die so gefundene Lösung erwies sich in den folgenden Monaten als ausgesprochener Glücksfall. Die Champagnerproduktion florierte unter der neuen Leitung noch nachhaltiger als zuvor und das gesamte Gut prosperierte, dass es eine Freude war.
Louis Larousse fand endlich Zeit, um sich seiner großen Leidenschaft, dem Tontaubenschießen, zu widmen.
Der Geißbock, der Pavian und der Kuttengeier mussten sich nie wieder verkleiden und erhielten auf dem Gut das Gnadenbrot.
Jedesmal, wenn später Besucher von außerhalb anmerkten, dass die drei Tiere ihrer Ansicht nach große Ähnlichkeit mit den Rolling Stones hätten, widersprach von den Angestellten niemand und auch der Manager hielt lächelnd seinen Mund.
Michael, 28. April 2023.