Einmal urlaubte ich im Persischen Golf an Bord meiner hochseetauglichen Yacht, die ich mir nur deshalb zugelegt hatte, weil mir absolut nichts anderes mehr eingefallen war, wie ich mein Geld sonst noch ausgeben hätte können. Ich hasste nämlich alles, was mit Wasser zu tun hatte, und ganz besonders das Meer, das ja ausschließlich aus Wasser besteht. Ich kreuzte auf einem langweiligen Zickzackkurs und betäubte mich unter Deck mit exotischen Drinks, die ich mir den ganzen Tag von meinen Barkeepern mixen ließ.
Als plötzlich ein Unwetter und schließlich ein tosender Sturm aufkamen, war ich zunächst froh, dass zumindest irgendetwas geschah, das mich vom Anstarren der Meeresoberfläche durchs Kajütenfenster abhielt. Der Sturm wurde rasch so heftig, dass mich nichts mehr unter Deck hielt. Ich zog mein Ölzeug an, stülpte mir meinen Südwester auf den Kopf und begab mich ins Freie, um dem Sturm Auge in Auge gegenüberzutreten.
Es dauerte keine fünf Sekunden, bis eine kräftige Bö mich über Bord wehte. Ich stürzte mit dem Kopf voran ins Wasser und dachte, dass meine letzte Stunde geschlagen hätte. Zu meinem Erstaunen wurde ich jedoch nicht in die Tiefe gezogen, sondern geriet zwischen zwei faserige, hornartige Platten, zwischen denen ich allerdings nicht lange verweilte. Ich wurde ins Innere von etwas hineingespült, das sich am treffendsten als eine riesige Kreatur beschreiben ließ. Nach einer abenteuerlichen Rutschpartie landete ich in einer glitschigen Ecke, in der ich zum Stillstand kam.
Zu meiner großen Verwunderung war es an diesem seltsamen Ort nicht gänzlich dunkel. Die Lichtquelle war ein siebenarmiger Kerzenleuchter. Ich stellte zudem fest, dass ich nicht allein war. Hinter dem Kerzenleuchter saß im Schneidersitz ein uralter Mann, der den längsten Bart trug, den ich je gesehen hatte.
„Wo bin ich hier gelandet?“, fragte ich den Greis. „Und wer bist du?“
„Du befindest dich in einem Wal“, erwiderte der Alte, „und ich heiße Jona.“
„Der Jona?“, fragte ich ungläubig.
„Eben der„, bestätigte der Greis.
„Aber du solltest doch schon seit dreitausend Jahren wieder draußen sein!“, rief ich. „So ist es jedenfalls in der Geschichte überliefert, die die ganze Welt kennt.“
„Es ist etwas schiefgelaufen“, erklärte Jona, „und zwar ganz gewaltig. Der Koloss, in dem wir jetzt beide sitzen, hat sich nämlich geweigert, mich wieder auszuspucken.“
„Und wieso bist du hier drinnen nicht verhungert und verdurstet?“, fragte ich. „Wovon ernährst du dich?“
„Der Wal“, erklärte Jona, „frisst gerne kleine Lebensmittelfrachter, die er komplett verschlingt. Die Auswahl ist nicht immer groß, doch irgendetwas, das mich nährt, ist stets dabei.“
“ Hättest du dann“, fragte ich höflich, „vielleicht etwas zu trinken für mich? Du musst wissen, dass ich immer durstig bin.“
„Champagner kannst du haben“, sagte Jona, „letzte Woche hat sich der Wal eine französische Fregatte einverleibt. Ich konnte ein paar Dutzend Flaschen sicherstellen, bevor mein Wirt die Beute wieder ausgespuckt hat.“
„Champagner ist genau das richtige“, erwiderte ich.
„Du wirst allerdings aus der Flasche trinken müssen“, sagte der Alte. „Ein Gläserschiff hat mein Wirt nämlich noch nie verschlungen.“
„Das ist völlig in Ordnung“, entgegnete ich. „Ich trinke Champagner immer gleich aus der Flasche Gläser halte ich für Zeitverschwendung.“
Er zog zwei Piccoloflaschen Taittinger hinter seinem Rücken hervor, von denen er mir eine reichte.
„Herzlichen Dank für deine Gastfreundschaft“, sagte ich, als wir anstießen, „auch wenn ich mich gar nicht darum bemüht habe, von dir eingeladen zu werden. Ein Sturm hat mich von meiner Yacht ins Meer geweht.“
„Prost“, rief Jona und leerte seine Flasche in einem Zug.
Ich tat es ihm nach.
„Noch eine?“, fragte Jona und ich nickte.
Wir leerten zwei weitere Piccolos. Es blieb nicht dabei. Mein Gastgeber erwies sich weiterhin als generös und wir tranken mehr. Ich wurde von dem vielen Champagner immer neugieriger und fragte Jona, ob er denn gar keine Versuche mehr unternehmen wollte, um dem glitschigen Walgekröse endlich zu entrinnen.
Irgendwann rückte Jona mit der Wahrheit heraus.
„Es lastet seit alten Zeiten ein Bann auf mir“, sagte er, „der mir auferlegt wurde, als ich mich damals weigerte, die Bewohner der Stadt Ninive zu warnen. Der Bann kann nur gebrochen werden, wenn ich ein Rätsel löse.“
„Wie lautet denn das Rätsel?“, fragte ich. „Vielleicht kann ich es ja lösen!“
„Ich kann dir den unsinnigen Spruch gern sagen“, rief Jona. „Er geht so: Wenn du das Übel an der Wurzel packen willst, musst du Walnüsse knacken. Kannst du mir sagen, wo ich im Bauch dieses Ungetüms Nüsse herbekommen soll?“
Ich gab zu, dass es einigermaßen absurd klang. Nach zwei weiteren Piccoloflaschen Taittinger dachte ich eine Weile angestrengt nach.
„Ich hab’s!“, rief ich dann plötzlich. „Es ist ganz einfach. Du hast dir den Spruch falsch gemerkt. Es muss heißen: Willst du das Übel an der Wurzel packen, musst du dem Wal die Nüsse knacken. Es reimt sich!“
„Das verstehe ich genauso wenig“, erwiderte Jona. „In einem Wal gibt es doch keine Nüsse“
„Oh, doch!“, rief ich aufgeregt. „Verstehst du es denn nicht? Komm mit! Wir brauchen große Zangen aus Metall.“
Jona reichte mir spontan zwei Bolzenschneider.
„Sie stammen von einem Baumarktschiff, das der Wal vor ein paar Jahren verschlungen und wieder ausgespien hat.“
„Dann los!“, rief ich, packte die Bolzenschneider und zog Jona, der den Kerzenleuchter trug, am Ärmel. „Wir müssen noch tiefer in den Wal hinein und weiter hinunter.“
Obwohl der Alte den Meeressäuger seit mehr als 3000 Jahren bewohnte, überließ er mir bereitwillig die Führung. Rasch erreichten wir die intimsten Körperregionen des Wals. „Hier sind wir richtig!“, rief ich triumphierend und deutete nach vorn. „Bitte sehr! Die Nüsse des Wals! Seine gigantischen Hoden!“
Über Jonas Gesicht huschte ein Lächeln, als er es begriff. Er stellte den Leuchter ab und nahm mir einen der Bolzenschneider ab.
„Countdown auf drei?“, fragte ich und der Alte nickte.
Ich zählte rückwärts und wir zwickten gleichzeitig mit unseren Werkzeugen den Wal in seine Hoden.
Was folgte, war schier unbeschreiblich und ohrenbetäubend laut. Von Walgesang konnte keine Rede sein. Es handelte sich um das schlimmste Schmerzensgebrüll, das ich je vernommen habe. Es ging einher mit spastischen Zuckungen des Wals, die Jona und mich erfassten und uns, verstärkt durch den Aufruhr in der Darmperistaltik unseres Wirts, aus dessen Verdauungstrakt in weiter vorn gelegene Körperregionen katapultierten.
„Es funktioniert!“, schrie Jona begeistert. „Dein Plan geht auf!“
Er behielt recht. Nur wenige Augenblicke später schoss der Wal aus dem Wasser und spie uns in einem hohen Bogen aus seinem Leib.
Wir standen in diesem Moment wohl unter dem besonderen Schutz einer höheren Macht und landeten direkt an Deck meiner Yacht. Der Sturm hatte sich in der Zwischenzeit gelegt und nachdem der Wal wieder in die Tiefen des Meeres abgetaucht war, genossen Jona und ich den Anblick der friedlichen glatten See.
„Willkommen in der Gegenwart!“, rief ich und läutete dann meinen Barkeepern, damit sie uns etwas zu trinken brachten.
„Jetzt erfüllen wir deinen Auftrag“, sagte ich später zu Jona, während wir den Taittinger aus Magnumflaschen tranken, „und fahren über den Tigris hinauf nach Ninive.“
Michael, 12. Mai 2023.