Reich und arm zugleich

„Warum trinken Sie keinen Champagner“, fragte seine Gattin, nachdem er ihr berichtet hatte, dass die Bevölkerung unter hohen Bierpreisen litt. Er dachte darüber nach und wusste auch keine wirkliche Antwort. „Vermutlich ist ihnen der Hopfen näher als das Hemd“, mutmaßte Ulrich etwas später. Seit er ein beachtliches Aktienpaket an einer der größten Brauereien sein Eigen nannte, war er bierpreistechnisch sowieso generell tiefenentspannt. Seiner Gattin zuliebe nippte er zwar immer wieder kurz am Champagner, aber nächtens trank er mehrmals im Monat mit jungen BWL-Studentinnen Bier in rauen Mengen. Seiner Gattin gingen zwar die nächtlichen Aufsichtsratssitzungen – so bezeichnete er seine Ausflüge – gehörig auf die Nerven, aber der Erfolg gab ihm einfach Recht. Sie gehörten dank nächtlicher Nachhilfe in Wirtschaftsfragen definitiv nicht mehr zur Mittelschicht, die immer noch glaubte, dass ein eigenes Haus einen Vermögenswert und keine Verbindlichkeit bilden würde. Nach einiger Zeit hatte Ulrichs Gattin die Idee, einen kleinen Champagnerempfang zu organisieren, um nicht immer nächtens alleine zu sein, wenn er bei seinen Aufsichtsratssitzungen unentbehrlich war. Sie berichtete Ulrich nächsten Tag von den spannenden Themen und Ulrich war froh, dass er mit diesen Langweilern nichts zu tun hatte. Er ermutigte sie, diese doch wie seine Aufsichtsratssitzungen regelmäßig zu veranstalten und brauchte fortan auch kein schlechtes Gewissen mehr haben, schließlich amüsierte sich seine Frau mit den vermutlich bereits pensionierten Kulturkritikern und drittklassigen Politikern vorzüglich. In einer Nacht bzw. offiziell in einer Aufsichtsratssitzung verkrachte Ulrich sich mit seiner Lieblingsstudentin und hatte jedenfalls genug, ihre Wohnung, ihre Kleidung und ihr Auto zu finanzieren. Als er bereits um 22.30 Uhr wieder zu Hause ankam, war die Überraschung doch groß. Weibliche Gäste waren anscheinend bei diesen Champagnerempfängen nicht erlaubt und das Höchstalter schien geschätzt auf dreißig Jahre beschränkt zu sein.  Auch sahen Kulturkritiker und Politiker definitiv anders aus. Es kamen ihm die Gesichter relativ bekannt vor und kurze Zeit später war ihm klar, dass sich fast die ganze Fußball-Nationalmannschaft hier vergnügte. Er komplementierte alle sofort raus und stellte seine Gattin zur Rede. Sie meinte nur, dass sie nunmehr als eine Art Co-Trainerin bzw. Mental-Coach fungieren würde und für die Nationalmannschaft unentbehrlich wäre. Ulrich konnte vorerst diesen Blödsinn nicht fassen, hätte die Nationalmannschaft nicht tatsächlich die folgenden drei Spiele klar verloren. Da ihm Fußball ähnlich wichtig wie Bier war, willigte er schweren Herzens ein, dass seine Gattin weiterhin in ihrer Funktion tätig blieb. Die Champagnerempfänge wurden aber ersatzlos gestrichen und er war den nächtlichen Aufsichtsratssitzungen seither fern geblieben. Dass seine Gattin immer noch nächtens, wenn sie nach ihren Mentalcoaching-Sitzungen nach Hause kam, nach Champagner duftete, blieb ihm lange unklar. Als er später in der Zeitung las, dass der Mittelstürmer der Nationalmannschaft nach Siegen immer in Champagner badete, kam in ihm ein leiser Verdacht auf. 

Harald, 12. Mai 2023.

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