Oinosaurus Hix

Als ich einmal in der Nähe des Städtchens Chaumont in der Haute-Marne durch die Laubwälder streifte, entdeckte ich unter einer mächtigen Buche einen älteren Mann, der schwer atmete.

Als der Mann auch mich bemerkte, winkte er mich zu sich heran und sagte mir, dass es ihm nicht gut ginge, da er keine Luft bekäme.

„Ich habe meinen Asthmaspray vergessen“, keuchte er. „Leider passiert mir das andauernd, weil ich so zerstreut bin.“

„Heute macht es nichts“, erwiderte ich. „Sie können gern meinen haben.“

Ich kramte in meinem Rucksack und reichte meinen Spray dem Fremden, der ihn dankbar entgegennahm und sich mit ein paar kräftigen Sprühstößen Linderung verschaffte.

„Danke“, sagte der Mann. „Jetzt geht es wieder. Sie müssen wissen, dass ich in der näheren Umgebung eine sensationelle Entdeckung gemacht habe. Gestatten Sie übrigens, dass ich mich zuerst vorstelle: Mamertus Gulp, Mamertus wie der Eisheilige.“

Er streckte mir seine Rechte hin, die ich ungläubig schüttelte.

„Was?“, rief ich dann entgeistert. „Etwa der Mamertus Gulp?“

„Sie kennen mich?“, fragte der Fremde erstaunt nach.

„Sind Sie Professor Mamertus Gulp“, sagte ich, „Paläontologe und Entdecker des Oinosaurus Hix, zu Deutsch des immervollen Weinsauriers, der sich im Tithonium im Oberjura ausschließlich von zerstampften vergorenen Weintrauben, also im Grunde genommen von Wein, ernährte?“

„Genau der“, strahlte Gulp. „Sind Sie etwa vom Fach und ebenfalls Paläontologe?“

„Nein, nein“, wehrte ich bescheiden ab, „ich bin bloß ein interessierter Laie. Ich heiße Rufus Räuschel.“

„Ich stehe in Ihrer Schuld, Rufus Räuschel“, sagte der Professor. „Ihr Spray hat mir höchstwahrscheinlich das Leben gerettet. Dafür würde ich mich gern erkenntlich zeigen.“

„Schon gut“, winkte ich ab. „Das ist doch nicht nötig.“

„Es ist nichts Materielles, was ich Ihnen anbiete“, erklärte Gulp. „Ich würde Ihnen aber wenigstens gern meine Entdeckung zeigen. Sie werden staunen!“

„Also gut“, lenkte ich ein. „Wenn Sie vorangehen, will ich Ihnen folgen.“

Der Professor nickte, erhob sich von seinem Lagerplatz unter der Buche und stapfte los. Er legte ein erstaunliches Tempo vor, sodass ich Mühe hatte, mit ihm Schritt zu halten. Er bewegte sich zuerst auf unmarkierten Pfaden, bog allerdings bald ins Gelände ab. Schließlich zwängte er sich durch ein nicht enden wollendes Dornengestrüpp. Ich war gezwungen, es ihm gleichzutun. Am Ende standen wir völlig zerkratzt vor einer Felswand neben einem kleinen Wasserfall.

„Können Sie es erkennen?“, fragte mich Mamertus Gulp. „Es wäre ganz außergewöhnlich für einen interessierten Laien!“

„Ich sehe in dem Fels das gut erhaltene Skelett eines Sauriers, Professor“, rief ich, „und zwar wie erwartet eines Oinosaurus Hix.“

„Ausgezeichnet, Rufus Räuschel“, erwiderte Gulp. „Allein das wäre schon eine Sensation. Aber deswegen sind wir nicht hier. Sehen Sie noch etwas?“

Ich kniff die Augen zusammen und betrachtete das riesige, gut erhaltene Fossil noch einmal genau.

„Tut mir leid, Herr Professor“, gestand ich dann, „mehr sehe ich leider nicht.“

„Dann will ich es Ihnen zeigen!“, sagte Mamertus Gulp. „Sehen Sie hier im Bereich des Mauls diese markante versteinerte Form, die einer Flasche gleicht und darüber die charakteristischen Bläschen, die im Stein konserviert wurden?“

„Jetzt, wo Sie es sagen, kann ich vage etwas erkennen“, erklärte ich. „Ich habe aber immer noch keine Ahnung, worauf Sie hinauswollen.“

„Diese Form, von der ich sprach, ist kein Zufall! Es handelt sich tatsächlich um eine prähistorische Flasche, aus der Bläschen aufsteigen! Mit anderen Worten: Dieser in Stein konservierte Saurier hat nicht bloß Wein konsumiert, sondern zweifelsfrei Champagner. Ich, Mamertus Gulp, habe eine neue Unterart des Oinosaurus Hix entdeckt, den Oinosaurus Hix Champaniensis! Eine Weltsensation!“

Da fing ich lauthals an zu lachen und konnte gar nicht mehr aufhören.

Eine Weile dachte der Professor, dass ich vor Freude lachte. Schließlich dämmerte es ihm aber, dass ich ihn auslachte.

„Sie glauben mir also nicht, Rufus Räuschel“, rief er verzweifelt. „Wie sehr Sie mich enttäuschen und wie sehr ich es bereue, dass ich Sie in mein Geheimnis eingeweiht habe! Ich hatte vor, Sie einzuladen, wenn mir höchste akademische Ehren zuteil werden! Aus dieser Einladung wird nun natürlich nichts.“

Ich lachte immer noch weiter, weil mich die Entdeckung des Professors weiterhin erheiterte wie selten etwas zuvor. Mamertus Gulp ließ mich schließlich einfach stehen und trat allein den Rückweg an.

Irgendwann gegen Abend kam auch ich wieder zur Besinnung und spürte Hunger und Durst. Zum Glück erreichte ich noch vor dem Einbruch der Nacht das Zimmer, das ich mir in einer Frühstückspension besorgt hatte.

In der Folge vergaß ich meine Begegnung mit Mamertus Gulp, bis zu jenem Zeitpunkt, als ich beim Umschalten auf ein anderes Programm im Fernsehen zufällig bei einem Live-Bericht von einer jährlichen Feier der Royal Society landete.

Zu meinem großen Erstaunen wurde Mamertus Gulp in dem Festakt für die Entdeckung des Oinosaurus Hix Champaniensis tatsächlich mit der renommierten Copley-Medaille ausgezeichnet.

Ich fühlte mich nachträglich so arg beschämt, dass ich es nicht einmal fertigbrachte, ihm zumindest aus der Ferne zu gratulieren.

Der Professor hingegen, der offenbar meine Adresse herausgefunden hatte, schickte mir an einem der folgenden Tage meinen Asthmaspray zurück, zusammen mit einer sprechenden Grußkarte. Als ich sie aufklappte, erklang Triumphgeheul.

Michael, 19. Mai 2023

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